Vielen Dank, dass Sie die DVD Shot in the Dark gekauft haben. Auf dieser Seite finden Sie alle Texte des Booklets in einer Textdatei sowie Beschreibungen der im Booklet gezeigten Bilder.

 

SHOT IN THE DARK

BOOKLET ZUR DVD

 

„Wie großartig Licht ist, verstehst du erst, wenn du erblindet bist.“ Sonia Soberats

Foto: Sonia Soberats erfühlt mit ihren Händen das Gesicht von Jessica Jones, New York 2006

Bildbeschreibung: Ein Schwarz-Weiß-Foto. Eine ältere Frau mit kurzen Haaren und einer Sonnenbrille steht links im Bild. Sie trägt einen kurzärmeligen Pullover, Ohrringe und ein Armband, es ist Sonia Soberats. Sonia hat ihre Hände tastend zum Gesicht einer jungen sitzenden Frau ausgestreckt. Die junge Frau hat die Haare zurückgebunden und trägt Tücher locker um Hals und Schultern, ihre Stirn ist durch Sonias rechte Hand verdeckt. Sonias Kopf ist leicht nach vorne geneigt, als ob er sich voll Konzentration der jungen Frau zuwendete. Die junge Frau heißt Jessica Jones. So wird auch das Foto heißen, das sich Sonia Soberats gerade erschließt, und es wird in Museen ausgestellt werden.

 

Seite 2

Szenenfoto aus dem Film: Pete Eckert erschließt sich Terrain in den Redwood Forests für eine Aufnahme, Montgomery Woods, 2014.
Bildbeschreibung: Im Wald. Im Vordergrund des Fotos steht rechts zwischen Farnzweigen eine Mittelformatkamera auf einem Holzstativ. Quer durch das Bild und den Wald zieht sich ein Graben, in dem Pete Eckert steht. Er trägt Hosenträger über einem blauen Hemd, eine blaue Hose, einen Bart und eine Piloten-Sonnenbrille. Hinter ihm sehr dicke Stämme von alten Bäumen mit tief zerfurchter Rinde. Pete Eckert ertastet sich mit seinem Langstock die Position und die Größe der Baumstämme. Seine Kamera auf dem Stativ ist auf diese Baumstämme gerichtet.

 

Zitat über dem Bild: »Mein Gehirn zeigt mir weiterhin Bilder, vielleicht sogar intensiver als vor der Erblindung.« Pete Eckert 

 

Seite 3

Eine kurze Geschichte wie ich zur Fotografie kam

Pete Eckert

 

Eines Tages, als ich eine Schublade aufräumte, fand ich die alte Kamera meiner Schwiegermutter. Sie war ein paar Jahre vorher gestorben. Ich bat meine Frau Amy, mir die Einstellungen zu erklären, damit ich die Kodak aus den 1950er Jahren benutzen konnte. Die Kamera faszinierte mich und ich entdeckte, dass man sie auf Infrarot stellen konnte. Die Vorstellung, dass ein blinder Mensch Bilder in einer nicht sichtbaren Wellenlänge macht, hat mich sehr amüsiert. Ich hatte angebissen. Dabei hatte ich keine Ahnung von Negativfilmen oder analogen Kameras.

 

Die alte Kamera habe ich auf meine nächtlichen Ausflüge mitgenommen. Mein erster Führhund Uzu musste ein neues Kommando lernen. Das Kommando, um die harten Jungs von der Straße daran zu hindern, meine Ausrüstung zu stehlen, war „Watch my toys“ – „Pass auf mein Spielzeug auf“. Ich hatte ihm schon das Kommando „Finde dein Spielzeug“ beigebracht, also war ein weiteres Kommando, um meine Kameras zu schützen, ganz selbstverständlich. Dass er wie ein großer schwarzer Wolf aussah, hat auch geholfen. Uzu hat nie jemandem wehgetan. Er hat sich einfach zwischen mich und die bösen Jungs gestellt, bis ich meine Sachen eingesammelt hatte und ihm das Kommando zum Abhauen geben konnte.

 

Ich versuche, einen neuen Weg zu gehen als blinder visueller Künstler. Sehende Menschen helfen mir nicht, meine Kunst zu gestalten. Aber sie geben mir eine Rückmeldung, bevor ich die endgültigen Abzüge herstelle. Ich nehme das Bild auf, entwickle den Film und mache Kontaktabzüge. Es gibt eine klare Trennung. Ich brauche die Rückmeldungen, um mir die großen Abzüge leisten zu können. Ich möchte sehende Menschen einbeziehen. So entsteht eine Verbindung zwischen blinden und sehenden Menschen. Ich schiebe Fotos aus der Welt der Blinden unter der Tür hindurch, damit sie im Licht der Sehenden betrachtet werden. Ich betrachte meine Werke während der Aufnahme mit meinem inneren Auge. Ich „sehe“ jedes Bild sehr genau, nur dass ich dafür Klänge, Berührungen und Erinnerungen nutze. Ich bin eher ein Konzeptkünstler als ein Fotograf. Ich lasse mich von meinen Erinnerungen an Kunst beeinflussen und davon, wie ich heute die Welt erlebe. Tatsächlich sehen meine Fotos genauso aus wie meine Zeichnungen (jedenfalls die, die ich als Sehender angefertigt habe). Es gibt einen roten Faden, der sich durch mein künstlerisches Schaffen zieht.

 

Ich könnte sehende Menschen vollständig aus dem Ablauf ausschließen. Ich könnte ein Protokoll über die Fotoaufnahmen schreiben. Die Negative, die Kontaktabzüge und das Protokoll wären das Endprodukt. Für mich steht das Ereignis des Fotografierens im Vordergrund, nicht das Bild. Aber ich bevorzuge die dramatischen großformatigen Abzüge. Ich mache die großformatigen Abzüge, um die sehenden Menschen zum Nachdenken anzuregen. Gespräche bei Ausstellungen bilden eine Brücke zwischen meinem inneren Auge und ihrer Sicht auf meine Arbeiten. Manchmal wollen die Leute nicht glauben, dass ich blind bin. Ich bin ein visueller Mensch. Ich kann nur nicht sehen. Ich bin weder an die Vorstellungen der Sehenden gebunden, noch an die Beschränkungen, die sie vermuten.

 

Seite 4

Foto: «Nori 10-10-13» von Steven Erra

Bildbeschreibung: Ein Schwarz-Weiß-Foto. Sehr nah, ein Teil eines Gesichtes eines jungen Mannes. Die Stirn, die Nase, ein Auge. Das zweite Auge ist nur zu ahnen, es liegt im Dunkeln. Schmale vertikale helle Lichtstreifen durchziehen das Bild, formen Lichtmuster auf der Haut. Das Gesicht ist leicht nach vorne geneigt, das Auge scheint in die Ferne gerichtet, oder vielleicht doch eher nach innen?

 

Seite 5

Das Labyrinth der Nacht

Steven Erra

 

„Licht“ sei mein erstes Wort gewesen, sagen meine Eltern. Ich selbst kann mich an das Glücksgefühl erinnern, wenn ich nachts auf dem Rücksitz des Wagens, mein Haupt weit zurückgeworfen, Welt auf dem Kopf, aus dem Autofenster blickte und die strahlend leuchtenden Straßenlaternen der Bronx vor meinen Augen vorüberzogen. Es war wie fliegen. Meine Eltern waren davon überzeugt, dass ich einmal Elektriker werde.

 

Im Dunkeln konnte ich kaum sehen, stieß gegen Wände, und suchte die Hand meiner Schwester, um auch, wie die anderen Kinder, nachts rennen zu können. Die gefährliche Dunkelheit, gehässig, schien mir nur helle Lichter zu gönnen. Traf ich auf hellere Beleuchtung, seufzte ich auf vor Erleichterung. Ich war den anderen ein Rätsel, versagte stets bei dem, was sie Nachtsichtprüfungen nannten, wenn sie im Dunkeln erwartungsvoll ihre Hände vor meinem Gesicht auf und ab bewegten. Sie sprachen auch von den Sternen und ich war ratlos: „Sterne?“ Ich reckte meinen Hals, riss meine Augen auf, verengte sie zu Schlitzen, suchte mit aller Kraft und versuchte, sie mir vorzustellen. „Warum siehst du sie bloß nicht?“ Ich wusste es nicht. Ebenso wenig wusste es mein Augenarzt.

 

Jahre später, ich hatte nach meinem Schulabschluss unter hellsten Lichtquellen Malerei studiert, nahm meine Sehkraft ab bis auf einen Rest. Ich trat einem Kurs für Fotografie bei. Fotografie für Blinde. Wir experimentierten mit der Technik des Lightpaintings. Bilder wie diese hatte ich zuvor nicht gesehen, Bacon und Soutine kamen mir in den Sinn. Manchmal zwinge ich mich, beim Arbeiten mit der Lampe die Augen fest zusammenzupressen, um für ein paar konzentrierte Minuten, wie andere im Kurs, völlig zu erblinden. Das habe ich dort gelernt, es ist aufschlussreich. Eintauchen ins Ungewisse. Etwas geschieht, wenn wir im Kurs die Vorhänge schließen, das Licht löschen, und die Nacht uns umfängt. Es mag paradox klingen, aber nach sieben Jahren gemeinsamer Arbeit im Seeing With Photography Collective hat sich etwas Dunkles für mich gelichtet und einer Erkenntnis Raum gegeben, erschreckend, und zugleich lodernd hell wie eine Flamme ... Sehen könnte irrelevant sein. Dieses Bewusstsein entwickelt sich langsam, sehr, sehr langsam. Ich bin ich mir über dessen Bedeutung noch im Unklaren, selbst wenn ich das schreibe.

 

Während unsere Hände im Dunkel nach dem kalten Metall des Kamerastativs tasten, scheinen unsere Stimmen vom Raum Besitz zu ergreifen. Ideen entstehen, auch extreme. Hier hat das Mögliche einen Raum gefunden. Es geschieht etwas, das mir nicht den Magen umdreht wie die einst sich mir entziehende Nacht. Wenn wir im Dunkeln Bilder erschaffen, aus der Dunkelheit, wir alle gemeinsam, Blinde und Sehende... tastend, denkend, experimentierend, lachend, beschreibend, zuhörend... weben wir gemeinsam eine Ahnung.

 

Seiten 6 und 7

Notizzettel für eine Podiumsdiskussion zu »Shot in the Dark« mit dem Titel »Das Fotografische und das innere Auge«, eine Art Brainstorming

Frank Amann

 

Eins. „Shot In The Dark zeigt in kleinen biografischen Szenen das Abgeschnittensein der Wahrnehmung vom Augenbild und die Imagination als Heilung dieser schmerzhaften Wunde“ lese ich in Gerald Pirners Text zum Film.

 

Was macht das Außergewöhnliche mancher der Fotografien von Sonia Soberats, Bruce Hall und Pete Eckert aus? Was in diesen wunderbaren Fotografien hat mich dazu getrieben, diesen Film zu machen? Rührt die Energie daher, dass der „orthodoxe“, eingeübte Weg durch die physiologische „Wunde“ versperrt ist und die Künstler*innen gezwungen sind, eigene und damit andere Wege zu finden?

 

Eine Art Verstoßung vom ausgetretenen Pfad, die sich als eine Befreiung entpuppt? Befreiung aus der Schleife der Seh- und auch Bildgestaltungsgewohnheiten, der Imitation, ja letztlich des unbestreitbaren Abbildcharakters der Fotografie...?

 

Gezwungen sein, von der Vorstellung auszugehen - und damit nicht nur vom Imaginierten sondern auch vom Konzeptionellen... konzeptionelle Kunst...

 

Ich habe als Statement für die Ankündigung der deutschen Kinopremiere im Januar 2017 formuliert: "Nie zuvor in der kurzen Geschichte der Fotografie sind so viele Bilder gemacht worden, wie seit der Erfindung des Smartphones. Kein Essen ist zu unspektakulär, als dass es nicht für die Ewigkeit (bzw. die sozialen Netzwerke) in ein Bild verwandelt werden müsste. Eine Inflation der Bilder. Wäre es möglich, dass es ausgerechnet Blinde sind, welche die Fotografie zurückführen zu ihrem Zentrum - die Idee als Bild, das Bild als Idee?“

 

Zwei „Bei welcher Art visueller Kunst könnte der Zufall eine größere Rolle spielen, als bei der fotografischen Arbeit von Blinden?“ sagt mir Douglas McCulloh, der Kurator der Ausstellung Sight Unseen, am Telefon.

 

„Alles begann, als ich den Zufall ins Spiel kommen ließ.“ Bruce Hall

 

Der Zufall, auch so ein willkommener Fluchthelfer aus der Not des ausgetretenen Pfades. Ist für mich selber, bei meiner Arbeit als Kameramann, ein wichtiger Komplize geworden.

 

Drei „Wie großartig Licht ist, verstehst du erst, wenn du erblindet bist.“ Sonia Soberats

Die vom Licht Getrennten entscheiden sich für das Lichtbild als künstlerische Arbeitsform.

 

Schwingt in der Hymne von Sonia Soberats ein Abschied mit, der Schmerz nach einer Trennung, wenn in der Erfahrung des Verlustes der Wert dessen spürbar wird, was verloren gegangen ist?

 

In der Technik des Lightpaintings, mit der Sonia Soberats und Pete Eckert arbeiten, wird das Licht wieder verfügbar für die vom Licht Getrennten. Sie haben es buchstäblich wieder in der Hand. Das Spiel mit dem Licht im Lightpainting auch ein lustvoller Selbstzweck?

 

Vier Der im Alter von 34 Jahren erblindete Essayist Gerald Pirner schreibt weiter: „Blindheit ist kein Zu-Wenig an Bildern, Blindheit bedeutet ein Zu-Viel an Bildern, da kein vom Auge gesehenes Bild ein Bild anhielte, da kein vom Auge gesehenes Bild Bilder ausgrenzte, sie in Schranken wiese.“

 

Gerald Pirners Statement stellt das Lob der Imagination vom Kopf auf für mich unerwartete Füße. Gerald Pirner beschreibt hier etwas, das mir wie eine weitere Facette an Motivation für einige blinde Menschen erscheint, zu fotografieren: Fotografie, physisch-werden von Bildern, als Gegengift zu einer für mich als Sehenden unvorstellbaren Überflutung an imaginären Bildern.

 

Kontrollverlust inmitten eines Bilder-Tsunamis.

 

Das realistische Idiom der Fotografie, der zu Beginn meiner Notizen noch als zu überwindende Fessel behandelte Abbildcharakter der Fotografie, als Rettungsanker.

 

„Ich schiebe Fotos unter der Tür hindurch aus der Welt der Blinden, damit sie im Licht der Sehenden betrachtet werden.“ Pete Eckert

 

Fünf Der Tänzer Jack Hauser aus Wien sagt zu mir in einem Gespräch über »Shot in the Dark«: »Wenn ich auf meine Schritte schauen würde auf der Bühne, wenn ich meine Bewegungen mit dem Blick kontrollieren wollte, wäre ich verloren. Mein Körper trägt den Raum in sich, ich bewege mich aus dieser Intuition heraus, ich gestalte wie ein Blinder, ein Ahnender - und setze einen jeden nächsten Schritt mit großer Sicherheit.“

 

Der ganze Körper konstruiert und erfährt ein Bild, der ganze Körper „hat“ ein Bild. Ein körperliches Bild.

 

Sechs Welcher Art sind die Bilder, die ich vor mir sehe, wenn ich einen Roman lese?

Welcher Art sind die Bilder, die ich vor mir sehe, wenn ich mich an einen Film erinnere?

Auch ich als Sehender betrachte diese Bilder vor meinem »geistigen Auge«, suche sie auf im chaotischen Archiv meiner Erinnerung.

 

„Man könnte sagen, ich bin ein bisschen wie Don Quichote. Die Originale befinden sich in meinem Kopf.“ Evgen Bavcar, blinder Fotograf und Philosoph, Paris, über die Bilder einer seiner Ausstellungen

 

„Wir alle schließen im Schlaf unsere Augen, Blinde wie Sehende. Und unsere träumenden Augen verstehen, staunen und sehen.“ Steven Erra, blinder Fotograf, New York. Anfangstafel des Films »Shot In The Dark«

 

Seite 8

Szenenfoto aus dem Film: James Halls Gesicht unter Wasser im Swimming Pool, Kalifornien 2014

Bildbeschreibung: Nah ist das Gesicht eines etwa vierzehnjährigen Jungen zu sehen. Vor ihm und überall um ihn herum steigen Luftblasen auf. Alle Farben im Bild scheinen das Türkisblau des Wassers in sich aufgenommen zu haben. Seine Augen sind geschlossen.

Zitat über dem Bild: „Der Zufall öffnet die Beschränktheit unserer Absichten.“ Douglas McCulloh.

 

Seite 9

Obsession und Zufall

Bruce Hall

 

Ich setzte meine Söhne für ein Porträt auf einen Stuhl, aber sie hielten niemals still. Sobald ich mit der Kamera auf dem Stativ bereit war, hatten sie den Stuhl wieder verlassen. Also gab ich das Einrichten auf, und begann ihnen buchstäblich blind zu folgen, mich in ihre Welt hineinzubegeben. Überraschend für mich entstanden daraus starke Bilder. Ich war irritiert. Das war kontraintuitiv, genau das Gegenteil von allem, was ich bisher getan hatte. Denn wenn man kaum etwas sieht, versucht man immer alles unter Kontrolle zu bringen, Abstände einzurichten, Licht zu setzen. Und dies hier war wie eine Explosion.

 

Wasser ist mein Thema - in allen meinen Arbeiten. Und auch meine Söhne genießen das Wasser, das verbindet uns.  Wir haben viel Spaß zusammen als eine Familie.

Während des Fotografierens geschieht alles viel zu schnell, ist alles viel zu chaotisch für mich als fast Blindem. Meistens bekomme ich nur zum Teil mit, welche Aufnahmen ich einfange. Umso größer ist die Freude dann später am Computer. Die Überraschung, wenn ich in Ruhe und aus kürzester Distanz, meinem Sehabstand, die Bilder in Ruhe betrachten kann. In meinem Rhythmus. Dann sehe ich, dann blicke ich meinen Söhnen in die Augen. Als ich losgelassen habe, nicht mehr versucht habe, alles zu kontrollieren, den Zufall ins Spiel kommen lassen habe, hat Fotografie für mich neu begonnen.

 

Kameras und optische Instrumente ermöglichen mir erst den Blick auf die sichtbare Welt. Und ich wiederhole diesen Prozess unablässig und immer wieder, bis ich Bilder finde, die bei mir etwas zum Schwingen bringen, die für mich die Welt zum Scheinen bringen. Das ist ein langer und mühseliger Prozess. Es ist für mich eine Obsession, Bilder von der Welt und den Menschen um mich herum zu entdecken. Bilder, die etwas mit mir zu tun haben und die ich wirklich mag.

 

Seite 10

Foto: Sonia Soberats zeigt ihre Methode des Lightpaintings mit einer Taschenlampe anlässlich der deutschen Kinopremiere, Berlin, Brotfabrik Galerie, 2017

Bildbeschreibung: Im Vordergrund steht Sonia Soberats, sie ist 82 Jahre alt, hat weißes Haar, trägt eine Sonnenbrille und roten Lippenstift sowie eine beige Stola. Sie hat ihren rechten Arm angehoben, eine schmale schwarze Taschenlampe in der Hand. Sie zeigt, wie sie die Lampe auf ihr fotografisches Motiv richtet. Neben ihr sitzt Kate Brehme, eine Kuratorin und die Moderatorin des Abends. Sie trägt kurzes schwarzes Haar, eine Brille und einen Pulli mit einem schwarz-weißen Muster. Hinter den beiden an der Wand ist eine Fotografie von Sonia Soberats mit dem Titel Jessica Jones zu sehen, das Porträt eines jungen Mädchens, das zu dieser Zeit in der Galerie ausgestellt wurde.

 

Seite 11

Anweisungen von Sonia Soberats für einen Fotografieworkshop für Blinde und Sehende

Sonia Soberats

 

Ich gebe kein fotografisches Thema vor. Das wäre grundfalsch. Es geht eher darum, dass alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre eigene Phantasiewelt wahrnehmen und in ihren Fotografien gestalten und für andere sichtbar werden lassen. Das gilt für Blinde wie für Sehende.

 

Der Raum muss vollständig abgedunkelt sein, damit wir selbst das Licht erschaffen und über es verfügen können.

 

Ein gelungenes Porträt eines Menschen setzt voraus, dass man den Menschen vorher mit den Händen berührt hat. In diesem Workshop werden unsere Hände zu unseren Augen.

 

Den Sehenden werden beim Fotografieren die Augen verbunden. Nicht nur, um Chancengleichheit herzustellen, sondern auch um sie von dem Zuviel an Sehen zu befreien, das sie davon abhält, ihre Phantasie und Vorstellungskraft in vollen Maße auszuschöpfen.

 

Wir werden die Techniken des Lightpaintings erlernen. Aber das wichtige sind nicht die Methoden, sondern, dass es uns gelingt, in unseren Bildern unserer Sehnsucht Ausdruck zu verleihen.

 

Seite 12

Foto aus dem Fotografieworkshop: Lightpainting im Dunkeln, von Andi Weiland.

Bildbeschreibung. Eine Frau mit langen dunklen Haaren sitzt im Profil auf einem Stuhl, ihre Hände ruhen auf ihren Knien. Hinter ihr steht eine Person, die nur verwischt zu ahnen ist. Sie hat die rechte Hand auf den Kopf der sitzenden Frau gelegt, die andere Hand scheint sich schnell hinter dem Kopf zu bewegen. Dort wo diese Hand sich bewegt, ist es sehr hell. Die Hand ist durch die Bewegung verwischt. Malt sie mit dem Licht einer Taschenlampe?

 

 

Seite 13

Das Bild und seine Konstruktionen
Nachbetrachtungen eines Erblindeten zu einem Workshop bei der blinden Fotografin Sonja Soberats (New York) und der sehenden Fotografin Mila Teshaieva (Berlin) im Rahmen der Premiere des Films Shot in the Dark in der Brotfabrik in Berlin

Gerald Pirner

 

Nähern wir uns einem Medium an, das den Ausdruck, die Darstellung innerer Bilder von Erblindeten ermöglichen könnte und damit vielleicht auch die Darstellung des inneren Antagonismus der Erblindeten: das sogenannte Lightpainting.

Zunächst ist der Begriff des Lightpainting mehr als nur eine Metapher, es wird berechtigter Weise als „Lichtmalerei“ bezeichnet, als das Erstellen eines Bildes aus Licht ohne weitere stoffliche Farbzugaben. Gemalt wiederum wird nicht mit dem Pinsel oder der Spachtel, gemalt wird mit einem „Produzenten“ von Licht, einer Lichtquelle, einer Taschenlampe. Daher ist Lightpainting vielleicht gar nicht so weit von der Lichtkunst etwa eines Dan Flavin, eines James Durrell entfernt, die in Bestrahlungen und Ausstrahlungen mit farbigen Neonröhren Gegenstände, Räume und Architekturen in eine magische Andersartigkeit des Wirklichen verwandeln, die der erblindete Autor nur aus Beschreibungen kennt. Ein weiterer Faktor, der hier auftritt ist die Erinnerung an Bilder, an Gesehenes, das im Kopf der Erblindeten erscheint, dem sie als Szenen einen künstlichen Raum geben, in welchem sie zu realen Bildern werden können.

 

Das Bild der Erblindeten ist dem Schnappschuss diametral entgegengesetzt, Belichtungszeiten von 10 bis 15 Minuten bringen eben geradezu Gemälde hervor, deren Malmittel nur noch das Licht selbst ist.

 

Ein verdunkelter Raum sperrt das Licht aus, macht das Licht kontrollierbar lässt alle Bewegungen der jetzt kontrolliert auftretenden Lichtspuren von einer auf Langzeitbelichtung eingestellten Kamera aufzeichnen. Das Licht verliert so alle Naturhaftigkeit, alle Sichtbarkeit der Welt muss hergestellt werden und ist für den Erblindeten aus seinem Gedächtnis heraus erstellbar. Der ganze Akt hat aber auch etwas von einer Skizze, werden doch hauptsächlich Konturen nachgezeichnet, werden mehr oder minder intensiv belichtet oder ausgeleuchtet. Im kontrolliert ausgeleuchteten Raum entsteht ein Raum der Dokumentation der Bewegung des Lichts. Wird das Bild zum Protokoll dieser Bewegung. Was aber wird da tatsächlich sichtbar, was bringt die Fotografie der Erblindeten hervor, wenn nicht das Sehen selbst, eine Darstellung des Sehens, eben nicht das Sehen von Dingen oder Welt, sondern das Sehen, dem jedes Objekt entzogen wurde, das sich selbst zum Betrachtungsobjekt wird, das einen Raum gefunden hat, sich beim Sehen zuzusehen.

 

Das „aufgetragene“ Licht erscheint dem Erblindeten, und noch ganz anders als das vermeintlich natürlich beleuchtende Licht, als Berührung, die unter ihrem Berühren den Gegenstand zu seiner plastischen Dreidimensionalität überhaupt erst führt. Am Anfang des menschlichen Lebens ist die Berührung. Lightpainting ist eine Berührung durch Licht, die auffordert zum Ursprung der Welterfahrung zurückzugehen, zur Berührung, und dem was sich ihr hingibt. Lightpainting macht die Berührung sichtbar, und stellt Sehen in seinen ursprünglich taktilen Kontext zurück.

 

Lightpainting ist eine Berührung von Mensch und Welt in Licht, unter der beides verschwindet, um als seine jeweilige Spur unter Licht wiederzukommen.

 

Seite 14

Foto: Healing Light“ von Sonia Soberats.

Bildbeschreibung: Schwarz-Weiß-Foto. Eine ältere Frau mit einem Hut mit einer breiten Krempe ist links im Bild im Profil zu sehen, sie schaut nach rechts, nach oben. Von dort breiten sich Lichtstrahlen aus. Die Strahlen erreichen auch die Hände der Frau, ja gehen durch sie hindurch. Sie hat beide Arme und Hände weit ausgestreckt, als ob sie die Strahlen ergreifen wollte.

 

Seite 15

Texte und Bildnachweise

 

1   Sonia Soberats zu Regisseur Frank Amann, Interview in Queens (New York) 2014

Sonia Soberats fotografiert Jessica Jones. Dieses Bild entstand 2006 im Arbeitsraum des Seeing With Photography Collectives in Manhattan/ New York. Foto mit freundlicher Genehmigung von Inti Pachurin (intipachurinphotography.com)

 

2   Pete Eckert während der Dreharbeiten in den Redwood Forests, Montgomery Woods State Reserve, 2014.

 

3   Auszug aus »A short history of how I got into photography« mit freundlicher Genehmigung von Pete Eckert (peteeckert.com). Übersetzung: Achim Stenzel

 

4  Nori 10­10­13‹ von Steven Erra. Steven Erra ist im Film zu sehen. Er unterstützt während der Dreharbeiten Sonia Soberats beim Leuchten der Fotografie ›Sword‹.

 

5   Auszug aus »The Labyrinth Of Night« von Steven Erra. Steven Erra ist Maler, Fotograf und Schriftsteller. Im Film unterstützt er Sonia Soberats bei der Fotografie ihres Bildes »Sword«

(nothingperipheralasightimpairedartist.blogspot.de)

 

6 und 7   Notizzettel für eine Podiumsdiskussion anlässlich der deutschen Kinopremiere von »Shot in the Dark« im »Spektrum - Arts Science Community« 2017. Bezüge zu »Bilder vom Rand des Bildes« von Gerald Pirner und zu »blindness and the zero point of photography« von Douglas McCulloh.

 

8  James, einer der Söhne von Bruce Hall, genießt das Wasser während der Dreharbeiten. Kalifornien, 2014. Zitat aus: Douglas McCulloh, Chance Encounters, 1998. Douglas McCulloh ist Fotograf, Essayist und Kurator der Ausstellung ›Sight Unseen‹.

 

9  Der Text von Bruce Hall ist zusammengestellt aus einem Recherche­Interview für ›Shot in the Dark‹ (2013) sowie Mail­Konversationen mit dem Regisseur.

 

10  Sonia zeigt ihre Lightpainting­Technik mit der Taschenlampe, neben ihr Kuratorin und Moderatorin Kate Brehme. Brotfabrik­Galerie, Berlin, 2017. Mit freundlicher Genehmigung von Andi Weiland.

 

11  Textnotizen des Regisseurs bei einem Telefongespräch mit Sonia Soberats, 2016.

 

12  Workshop anlässlich der Premiere von ›Shot in the Dark‹, Brotfabrik­Galerie, Berlin 2017. Foto: Andi Weiland

 

13  Auszug aus ›Das Bild und seine Konstruktionen‹ mit freundlicher Genehmigung von Gerald Pirner. Gerald Pirner schreibt Essays aus der Sicht eines erblindeten Autors über Kunst, Musik, Theater. Die ukrainische Fotografin Mila Teshaieva setzt bei einigen ihrer Fotografien die Technik des Lightpaintings ein, zum Beispiel für ihren Bildband ›Inselwesen‹.

 

14  Healing Light‹ von Sonia Soberats, 2014

 

DVD-Programmierung: Julia Schwalbe, Irma Heithoff
Herstellung der DVD: MastersHome

Redaktion des Booklets: Frank Amann

Grafische Gestaltung: www.bildargumente.de

 

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For every person who fights for their vision.

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